Hinweis: Es gilt das gesprochene Wort.
Die rehabilitative Versorgung in Deutschland kann sich sehen lassen, auch wenn der Schuh hier oder da drücken mag und die Akteure sich nicht nur ihrer Stärken, sondern auch bestehender Schwächen vergewissern und aus beidem die richtigen Konsequenzen ziehen müssen – gerade wenn es um Qualitätssicherung geht. Dies ist – vorweggenommen – die Quintessenz meiner Ausführungen auf dem diesjährigen Reha-Forum der DRV Bund. Ich argumentiere zunächst, dass bis heute vieles erreicht und Wesentliches bewahrt wurde, das in Deutschland etablierte System der rehabilitativen Versorgung in seinen verschiedenen Bestandteilen von seinen Konstruktionsprinzipien her insofern als Erfolgsmodell begriffen werden kann. Anschließend geht es um bekannte und versteckte Hürden im Versorgungsgeschehen, und hier insbesondere um die Gretchenfrage nach den Voraussetzungen für gute Qualität. Abschließend entwickele ich – unter dem Motto: der Weg nach vorn mit Blick zurück – einen kleinen "Lackmustest", dem sich aktuelle Reformagenden aus meiner Sicht unterziehen müssten.
Die Darstellung ist kursorisch, vieles kann nur in Stichworten beschrieben werden. Sie dient als Erinnerungshilfe für die, die die Verhandlungen des Forums verfolgt haben und ansonsten das Reha-System gut kennen. Was die ausgegebene Marschroute betrifft, sollten die Ausführungen aber auch für jene interessant sein, die in anderen Bereichen des deutschen Sozial- und Gesundheitswesens tätig sind und dort Verantwortung tragen.
1. Vieles erreicht, Wesentliches bewahrt: Das Erfolgsmodell Reha in Deutschland
Das System der rehabilitativen Versorgung in Deutschland bewegt sich, so möchte ich behaupten, durchaus auf der Höhe der Zeit – trotz, oder vielleicht besser, wegen des Umstands, dass es den Lockrufen nach ordnungspolitische Rosskuren nicht gefolgt ist, als diese (in den 1990er und 2000er Jahren) en vogue waren. Das gilt sicher nicht für den Schrumpfungsimpuls der Reform von 1997, aber doch für die Art und Weise, wie das System bis heute gesteuert wird und alimentiert wird. Jedenfalls hat man einen Umbruch in Richtung DRGs, mehr Taylorisierung oder totalem "purchaser/provider split" vermieden.
In der allgemeinen Gesundheitsdebatte sprechen heute viele vom Imperativ der personenorientierten Salutogenese – die Reha praktiziert ihn schon lange mit ihrem Ansatz der Prävention einerseits, ganzheitlicher Nachsorge andererseits. Vielfach geht es ihr – jedenfalls im Rahmen der verfügbaren Ressourcen – um den "ganzen Menschen" hinter einer spezifischen Funktionseinschränkung, und zwar unter Beteiligung mehrerer Berufsgruppen einschließlich derer, die gezielt an mitunter komplexen Lebenszusammenhängen ansetzen. Insofern kann man schließen, dass die Reha dort, wo viele heute ankommen, schon längst da ist – etwa wenn es um Pluridisziplinarität, sektorenübergreifende Interventionen oder Vorsorge geht.
Mehr noch: Was in den ordnungspolitischen Diskussionen bis vor kurzem als verstaubt galt oder manche auch heute noch als überkommen ansehen, erweist sich, berücksichtigt man die allgemein anerkannten Ziele der rehabilitativen Versorgung, auch perspektivisch als aussichtsreich. Schon heute bewegt sich die Gestaltung der Versorgungszusammenhänge gewissermaßen in der goldenen Mitte: mit den Prinzipien der Selbstverwaltung im System der Sozialversicherung, einer multiplen professionellen Fachlichkeit, der (faktischen) Synthese aus Wahlrecht und Patientensteuerung, dem Grundsatz der Leistungsvorhaltung und schließlich dem, was man verhandelte Bewirtschaftung nennen könnte:
- In der selbstverwalteten Sozialversicherung bilden die Orientierung auf Mitgliederinteressen und das Solidarprinzip ein robustes Fundament – Beispiele aus dem Ausland (z. B. den USA) zeigen, dass ohne solche Institutionen der soziale Zusammenhalt brüchig wird.
- Die multiple professionelle Fachlichkeit ist und bleibt ein Lebenselixier der Reha, auch beim größten Kostenträger, der bekanntlich eigene Einrichtungen unterhält. Gewiss ist letzteres umstritten und immer wieder Stein des Anstoßes, v. a. bei Gesundheitsökonomen. Aber: Prozesse der Leistungsauslagerung in anderen Teilen der Sozialadministration (z. B. in der Jugendhilfe) zeigen, dass der Verzicht auf eigene Interventionen Wissensverluste provozieren kann; dort wo die Erfahrung von und das Gefühl für die Komplexität der Interventionen hinter reinen Verwaltungsroutinen verloren geht, droht die Engführung von Interventionen, was anderswo, z. B. im Bereich der Pflegekassen und der dort erkennbaren Para-Medizinalisierung, gut beobachtet werden kann.
- Die heute im Reha-System etablierte Kombination aus Versichertenwahlrecht und sanfter Patientensteuerung ist vielleicht noch nicht ausgereift. Aber einerseits schafft sie Patientenmitsprache und "Begründungszwänge" für Kostenträger bei der Vermittlung von Ansprüchen und Leistungen (Versorgungsorten) – womit dem entsprochen wird, was in individualisierten Gesellschaften kaum mehr umgehbar ist; andererseits hat die im System betriebene, fachlich gestützte "Überzeugungsarbeit" bei der Vermittlung von Reha-Leistungen bzw. Plätzen einiges für sich, denn sie entschärft kontraproduktive Überbietungswettbewerbe auf der Basis von Äußerlichkeiten (so wie im Akutbereich der Krankenversorgung). Klar ist auch, dass eine reine Zuweisungspraxis die Nutzer-Compliance einschränken würde (wie man z. B. im System der Arbeitsförderung beobachten kann).
- Auch die im Reha-System vom Prinzip her ausgebildete Vorhaltungslogik ist bewahrenswert, obwohl einige Akteure daran gerne rütteln: Jedes moderne Versorgungssystem braucht – im Bewusstsein seiner "Feuerwehrfunktion" – Reserven für eine zeitnahe Versorgung; die Zulassung freier Kapazitätsbildung (wie z. B. im Pflegesystem) oder die Ausdünnung der Infrastruktur durch "Bestrafung" von Unterauslastung (wie im Fallpauschalenregime des Krankenhauswesens) verunsichert das Leistungsangebot. Belegungszwänge sind m. E. nur dann ein "Systemproblem", wenn es tatsächlich einen massiven Kapazitätsüberhang oder den Imperativ der Rendite gibt (wie in Ländern mit vielen börsennotierten Pflegekonzernen), ansonsten kann man sie deliberativ unter Kontrolle halten.
- Das Prinzip einer anbieterindividuell verhandelten Bewirtschaftung mit flexiblen Budgets hat ebenfalls vieles für sich: Es zeigt Sensibilität für spezielle Angebotsprofile und -konstellationen sowie für lokale Besonderheiten. Versuche, die komplexe Arbeit an somatisch und zugleich mentalen Beeinträchtigungen über einen Kamm zu scheren, sind kurzsichtig und generieren Dauerstress (wie zuletzt bei der Neuregelung des Finanzierungssystems in der stationären Psychiatrie ja auch eingesehen wurde…). Die Steuerung qua Ausschreibung und/oder mit Festpreisen (wie z. B. im Bereich der Arbeitsverwaltung) würde die Beteiligten vom Wesentlichsten ablenken, nämlich die Erfüllung sich jeweils individuell spezifisch darstellender Versorgungsbedarfe.
Kurzum: Der Weg nach vorn führt über eingetretene Pfade. Die (systemischen) Potenziale für Fortschritte sind gegeben und sollten unter Beibehaltung der genannten Rahmenbedingungen gehoben werden. Allerdings könnte man sich auf manche der Erfolgsvoraussetzungen stärker besinnen und sich überdies an schon länger bestehende Hürden heranwagen – auch und besonders dann, wenn es um Qualitätsfragen geht.
2. Bekannte und versteckte Hürden, oder: Gretchenfragen für gute Qualität
Das System der rehabilitativen Versorgung kennt eine ganze Reihe von Strukturproblemen, die man nicht schönreden sollte. Der Schock der 1996/1997er Reform sitzt immer noch tief und hat Spuren hinterlassen: Eine "geizige" Politik lässt bis heute mit ihren Deckeln wenig Luft zum Atmen, verbreitet lauert die Rationierung, und dies kratzt auch am Image des Sektors. Dieses Image ist ohnehin diffus, fehlt der vielgliedrigen Reha doch eine gemeinsame Identität und das Selbstbewusstsein im Umgang mit der großen Schwester, dem medizinisch geprägten Gesundheitswesen. Auch im Verhältnis zu anderen "Verwandten" (Pflege, Eingliederungshilfe) gibt es Kompetenzwirrwarr und viele Verschiebebahnhöfe; beim Versuch, hier für mehr Abstimmung und Integration zu sorgen, geht es nur langsam voran.
All dies ist wohlbekannt. Heute kommen aber andere Vertracktheiten hinzu, v.a. dann, wenn es – wie aktuell – um neue Konzepte der Qualitätssicherung geht. Hier, so meine ich, bestehen eine Reihe versteckter Hürden, die sich in drei "Gretchenfragen" übersetzen lassen:
- Lebensqualität für alle oder quasi-darwinistischer Funktionalismus?
- Transparente Kooperation oder verkappte Risikoabwälzung?
- Übersteuerung oder bedarfswirtschaftliche Ganzheitlichkeit im Dialog?
Die Probleme können hier nur kurz angerissen werden: Was die Spannung zwischen der Orientierung an Lebensqualität und dem dem Reha-System traditionell inhärenten, auf die Arbeitsfähigkeit von Patienten fixierten (deshalb quasi-darwinistischen) Funktionalismus angeht, so stellt sich die Frage, ob das System aus dem "return to work"-Korsett ausbrechen und Lebensqualität präventiv sowie universell fördern, also gesellschaftliche Teilhabe auch für die fördern kann, die sich außerhalb der regulären Erwerbsarbeit bewegen und dort übrigens viele versteckte Beiträge zur Wohlfahrt der Gesellschaft erbringen (z. B. als Großeltern). Bislang ist diesbezüglich der Auftrag an das System diffus und die Routine der Kostenträger oft zu kurzsichtig, was einem nachhaltigen Versorgungsansatz im Wege steht – so wie man dies aus anderen Bereichen der Daseinsvorsorge (z. B. bei der Pflege oder der Eingliederungshilfe) kennt.
Auch die Spannung zwischen dem "Prinzip Vernetzung" und der Praxis verkappter Risikoabwälzung (zwischen Kostenträgern einerseits, Leistungsanbietern andererseits) ist nach wie vor hoch. Kann die Reha sachgerechte Arbeitsteilung lernen und verhindern, dass die Versorgung immer fragmentierter wird und Versorgungsbedarfe abgeschoben werden? Vielfach erweisen sich Interventionen heute als verkürzt oder auch "blind" ambulantisiert; in der Arbeitsteilung mit dem Gesundheitswesen gibt es zunehmend mehr Anschlussversorgung und weniger Fallmanagement, was bekanntermaßen Drehtüreffekte erzeugt, die weder qualitativ gewinnbringend noch wirtschaftlich sind.
Last but not least: Kann die Reha dem gesellschaftsweiten Sog der schematischen, von "Systemmanagern" betriebenen Übersteuerung widerstehen und eine bedarfswirtschaftliche Ordnung entwickeln, deren Ziele und Mittel im Dialog zwischen allen Beteiligten gefunden und überprüft werden? Die rein zahlenfixierte Steuerung der Versorgung – mit fixen Standards, Einheitspreisen und Sanktionen auf Basis oberflächlicher Kennzahlen – ist ein Virus, das in vielen Bereichen des deutschen Wohlfahrtsstaats und erst recht international grassiert. Sie kontrolliert, wie man eigentlich schon längst weiß, einzelne Outputs, aber nicht den Outcome. Ergebnisqualitäten sind nach Stand der Dinge nicht sauber zu erfassen, und selbst wenn dies möglich wäre, würde die Belohnung und Bestrafung gradueller Wertabweichungen (nur darum geht es in den allermeisten Fällen) das Leistungssystem und seine Akteure permanent destabilisieren und stressen, was Qualität immer auch gefährdet. Die Reha geriert sich bezüglich solcher Steuerungen bislang zurückhaltend – aber im Mainstream der Experten fehlen heute Konzepte, die auf eine dialogbasierte Optimierung einer bedarfsorientiert-ganzheitlichen Versorgung abstellen und nicht einfach unpassende Rezepte aus der Erwerbswirtschaft kopieren.
Die drei Gretchenfragen stellen sich manchmal gleichzeitig: So würde die heute zumindest für die stationäre Krankenbehandlung verbreitet diskutierte P4P-Agenda (das "Bezahlen nach Qualität") den o. g. "Quasi-Darwinismus" höchstwahrscheinlich befördern. Gerade dann würde nur noch zählen, was bzw. wen man messbar "produktiver" machen kann – alles andere verbliebe in Verschiebebahnhöfen und auf Abstellgleisen. In jedem Fall würde diese Agenda alle Akteure auf Nebenschauplätzen absorbieren: Sie befördert interne und externe Dauerüberwachung, stellt datenmanagende Kostenträger und Anbieter unter permanenten, Vertrauen zerstörenden Manipulationsverdacht und schafft Sanktionsängste sowie reines Risikovermeidungsverhalten als Grundhaltung im Arbeitskörper der Einrichtungen. Eine qualitätsorientierte Gestaltung des Reha-Systems sieht sicher anders aus.
3. Weg nach vorn mit Blick zurück: ein "Lackmustest" für aktuelle Reformagenden
Für die Zukunft sind, soll das Erfolgsmodell Reha weiter reifen, drei übergeordnete Orientierungen angezeigt, die sich als drei Fragen eines "Lackmusstests" für Reformen formulieren lassen:
- Lassen Steuerungen mehr Luft zum Atmen in bewährten Strukturen?
- Tragen sie dazu bei, den Konsensmodus weiterentwickeln und alle Professionen mitnehmen?
- Taugen sie dazu, Schnittstellen im Reha-System geduldig zu optimieren, mit verteilter Expertise und verhandelter Finanzierung?
Am Beispiel der Qualitätssteuerung lässt sich illustrieren, wie eine Marschroute in der bewährten goldenen Mitte aussehen könnte: Vermieden werden sollten Schritte in Richtung P4P und die mit ihnen bedienten Abstellgleise; auch sollte es keine Engführung der Leistungsvorhaltung geben, eher muss der Auslastungsdruck gedämpft werden. Und statt mechanische, auf Scheinobjektiväten beruhende Leistungsbewertungen zur Basis der Bewirtschaftung des Sektors zu machen, sollten Anstrengungen unternommen werden, mit denen Informationen über Qualitäten optimiert und in einem strukturierten Dialog beraten werden können – durchaus so, dass belastbare Erkenntnisse ernst genommen und offen verhandelt werden, aber stets unter systematischer und gleichgewichtiger Einbeziehung aller Systemebenen und Professionen, also nicht nur derer, die "return to work" fokussieren. Unter diesen Bedingungen hat das Reha-System alle Chancen, auch künftig ein Erfolgsmodell zu bleiben.